Helmut Primel verschwendete keine Zeit, als er die Obhut des Doktors verließ und dem Ausgang des Bonhoeffer Nervenklinikumsgelände zustrebte.
Noch auf der Heimfahrt in der U8 grübelte er fieberhaft nach einer Möglichkeit, auch zukünftig im Zentrum des Geschehens den Dirigentenstab zu schwingen ohne weder sich noch andere Verkehrsteilnehmer zu gefährden. Und je länger er dem gleichmäßig müden Arbeitsgeräuschen der Linie 8 lauschte, desto mehr schälte sich eine Möglichkeit aus dem dunklen Hintergrund seines Bewußtseins, die ihm alles in allem als zu abgedreht erschien, wie sein Enkel so sagen würde. Aber nichts anderes wollte ihm einfallen. Und urplötzlich merkte er, wie schwach und ausgelaugt er sich fühlte. – Der verdammte Blutzucker! – Kunststück! Er hatte seit Stunden nichts zu sich genommen.
Also verschob er die Angelegenheit, um sich am Alex ein schnelles Mittagessen zu gönnen; schleppte sich langsam hoch in die Zwischenebene, in der sich Imbissstände der angesagtesten Kulinaritäten in jede Ecke quetschen und entschied sich für eine Gemüse – Reis – Pfanne.
Noch eine Cola dazu und Helmut Primel blühte auf; sah seine Idee in einem anderen Licht. Erkannte den Weg, den es zu beschreiten galt. Als Nächstes mußte er unbedingt seinen Enkel Franz anrufen. Der würde die richtigen Leute kennen. Da war sich er sicher.

Der Mann hieß Klaus Glanicke, zählte 34 Jahre und lief gerade Gefahr, sich eine Anzeige wegen Irreführung der Polizei einzuhandeln, als er drei Tage später die Notrufzentrale um genau 10.34 Uhr (MESZ) kontaktierte und dem entgegennehmenden Polizeibeamten nahe legte, doch einmal einen Einsatzwagen zur Kreuzung Yorckstraße/Mehrringdamm/Gneisenau zu schicken, denn da würde etwas echt Schräges abgehen.
Erste Handy – Videos davon kursierten wohl schon auf den sozialen Medien. Und es wurden minütlich mehr.

Nachdem Helmut Primel seinen Enkel Franz erreicht hatte, war alles recht schnell gegangen. Vielleicht sogar etwas zu schnell, denn ganze drei Tage später schon hing er bereits Vormittags mit freien Armen in einer Art Gummianzug genau im Zentrum über der Kreuzung Yorckstraße Ecke Mehrringdamm Ecke Gneisenaustraße in der Luft und dirigierte konzentriert; rang damit die Krakophonie des dortigen Lärms mit seinem Dirigentenstab in harmonischere Bahnen zu lenken.
Dies war nur möglich, da ihn Franz‘ Bekannte mit Seilen an allen Ampeln gesichert hatten.
Diese munteren Leute hatten quasi mit ihren Bergsteigerseilen drei Meter über dem Asphalt im Zentrum der Kreuzung fest gesurrt.
Und so schnell würde ihn dort auch niemand herunter bekommen, ohne Gefahr zu Laufen, daß sich Herr Primel Verletzungen hinzuzieht.
Dies findet Oberwachtmeister Gernruhig also vor, als er zusammen mit seiner Kollegin Polizeianwärterin Aische Üzgülen aus ihrem Streifenwagen steigt.
Selbstverständlich haben Franz‘ Leute gleich nach vollbrachter Tat jauchzend und feixend das Weite gesucht. Allein Primels Bodycam schenkt ihnen einen Ausschnitt des Geschehens aus sicherer Distanz.
So bleibt Gernruhig zunächst nichts weiter zu tun, als sich langsam mit der Zunge an der Innenseite seines neuen Gebisses entlangzustreichen, während er die Szene auf sich wirken läßt.
„Soll ich in der Zentrale Bescheid sagen?“, versucht Üzgülen einen sinnvollen Beitrag zu leisten.
„Jep. Tun Sie das.“, und als sie sich schon dem Streifenwagen wieder zugewandt hat: „Und die sollen der Feuerwehr Bescheid geben. Könnte doch was für die Jungs sein.“
Als die junge Kollegin sich daran macht, die Zentrale zu informieren, nähert sich Gernruhig dem seltsamen Kerl, der da in der Luft hängt und munter vor sich hin dirigiert, soweit es möglich ist.
Er ist für einen kurzen Moment echt versucht, selbst sein Samsung zu zücken, um selbst ein Video zu drehen. Das glaubt ihm doch niemand!
Aber er reißt sich zusammen, atmet einmal tief aus und ruft stattdessen den schrägen Dirigenten an: „Einen schönen Tach och. Ist denn allet jut bei Ihnen da oben?“
Als Primel ihm versichert, daß es ihm soweit gut gehe, bohrt Gernruhig geflissentlich weiter, ob er denn gerade wisse, was er da tue?
Und auch dies kann ihm der Mann ganz klar darlegen. Das das alles vollkommener Quatsch ist, was er da von sich gibt, steht auf einem anderen Blatt. Aber in sich schlüssig erscheint ihm das Ganze schon. Zumindest nachvollziehbar.
Doch da ist Üzgülen schon wieder an seiner Seite und teilt ihm mit, daß Verstärkung und Feuerwehr auf dem Weg seien. Dann nimmt sie selbst den komischen Kerl näher in Augenschein.
„Wie lange wollen se denn da so rumhängen?“, führt ihr Kollege die eben begonnene Unterhaltung fort.
„Solange es eben dauert.“, entgegnet Primel konzentriert arbeitend. Gernruhig nickt gelassen. „Verstehe.“ Er benötigt einen Moment, dann sieht er einen möglichen Weg.
„Wo sind denn die Leute, die sie dahin gebracht haben? Ich meine, wie kommen Sie denn wieder runter, wenn se, na sagen wir mal, auf die Toilette müssen?“, Gernruhig beobachtet sein baumelndes Gegenüber ganz genau und so entgeht ihm der anerkennende Seitenblick Üzgülens.
Der schwebende Dirigent verlangsamt zunächst sein Tun, dann kommt er vollends zur Ruhe. Er scheint nachzudenken. „Verdammt! Ich muß wirklich mal.“, er schaut finster auf Gernruhig hinab, als ob der was dafür könnte. Dann wieder ein in sich gekehrter Blick. Da werden wohl die Optionen geprüft, denkt sich Gernruhig und ist auf das Ergebnis ein wenig gespannt.
„Ich könnte ja einfach hier direkt auf die Straße…“, sinniert der Vogel plötzlich drauf los, da fährt Gernruhigs Zeigefinger auch prompt schon in Primels Richtung empor: „Das lassen Sie mal schön bleiben.“
„Na, Sie haben ja gut reden! Was würden Sie denn an meiner Stelle tun?“, erkundigt sich Primel leicht ungehalten. Im Grunde ist er auf sich selbst wütend, daß er einen derart wichtigen Punkt schlichtweg übersehen hat. Und nun das!
„Mich fragen, wie es überhaupt geschehen konnte, daß ich in so einer absurden Situation stecke?“, entgegnet Gernruhig ein wenig amüsiert.
„Schon gut.“, wiegelt Primel ab. „Und was noch?“, bohrt er nun weiter.
„Dirigieren und warten bis die Jungs eintreffen, die einen aus so was da befreien.“, entgegnet Gernruhig ganz entspannt aus der Mitte seiner selbst heraus. Er hat ja alle Zeit der Welt.